Exkursion der Fachgruppe Volkskunde zum Versuchsgut der Tierärztlichen Hochschule Hannover in Ruthe am 09.10.2017
„Den Spagat hinkriegen zwischen Tierwohl, kostengünstiger Produktion und dem Verbraucherwillen, ist für die Landwirtschaft ein riesiges Problem“. Das sagte Dr. Christian Sürie, Leiter des Lehr- und Forschungsgutes (LFG) der Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover (TiHO) in Ruthe. Im Rahmen ihres Projektes „Strukturwandel in der Landwirtschaft nach 1945“ besuchte die Fachgruppe die Einrichtung in der Nähe von Sarstedt mit einer Gruppe von 19 Personen.
Grundlagenforschung und die Entwicklung neuer Haltungsformen in der Landwirtschaft ist eine Aufgabe des Gutes. Der Lehrauftrag, auch in praktischer Form, ist die andere: Seit 1964 haben über 12.000 Studierende der Veterinärmedizin auf dem LFG das vorgeschriebene landwirtschaftliche Pflichtpraktikum absolviert. Sie lernen hier in der täglichen Praxis eines landwirtschaftlichen Betriebes die Formen und Aufgaben der modernen Nutztierhaltung kennen.
Der Betrieb wird modern geführt. Die Nutztierhaltung umfasst 90 Sauen, 4500 Legehennen und 25000 Tiere aus verschiedenen Mastgeflügelarten. Die Rindviehherde besteht aus 90 Milchkühen und 120 Tieren weiblicher Nachzucht. Im konventionellen und nachhaltigen Ackerbau dominieren auf 175 Hektar des Gutes Weizen, Gerste, Raps und Zuckerrüben sowie der Anbau von Mais und Leguminosen für die Rinderfütterung. Das Grünland umfasst 41 Hektar und dient der Gewinnung von Grassilagen und Heu sowie als Weidefläche für die Färsenaufzucht.
Dr. Sürie wuchs selbst auf einem traditionellen Bauernhof auf und ging in seiner Begrüßung bereits auf unser Thema ein. Er erinnerte an die selbst erlebten Veränderungen, die sich in den letzten Jahrzehnten alleine im Ackerbau vollzogen: Immer weniger Menschen bewirtschaften mit höchstem technischen Aufwand immer größere Flächen; oft auch auf Kosten ihrer einzigen Ressource – des Bodens.
Es müsse auch hinterfragt werden, wie lange der überhöhte Fleischkonsum in den Industrieländern noch hinnehmbar ist. Ein großes Problem sei bei wachsender Weltbevölkerung die Sicherung der Nahrungsmittelproduktion. Immer mehr Menschen verlangen täglich Fleisch oder Kuhmilch. Deshalb müssten wir darüber nachdenken, wie wir bei nicht vermehrbarem Ackerland den Bedarf befriedigen können.
Die Erzeugung von einem Kilo Schweinefleisch in der industriellen Mast kostet ca. das Vierfache an Nahrung. Dazu kommen andere Ressourcen wie die Aufzucht der Elterntiere, Erzeugung der Ferkel, Energiebedarf für die Erstellung und Betrieb der Ställe, Medikamenteneinsatz und „Entsorgung“ der Abfälle der Schweinemast. Bei Hühnern oder Fischen halbiert sich die einzusetzende Futtermenge pro Kilogramm erzeugtem Fleisch, dagegen verdoppelt sie sich wiederum bei Rindfleisch. Um den Hunger in der Welt zu stillen zu können, „werden wir wohl auch langfristig auf Insekten als Proteinträger zurückgreifen müssen“, wagt der Agrarwissenschaftler einen Ausblick in die Zukunft.
Der Kuhstall in Ruthe ist heute – im Gegensatz zu früheren Zeiten - nach allen Seiten offen und im Sommer sogar klimatisiert. Modernste technische Ausstattungen, wie Melkroboter oder Fütterungscomputer erleichtern dort nicht nur die Arbeit, sondern sie dienen auch dem Wohlbefinden und der Sicherheit der Tiere. Zur Überwachung der Herden wurden in allen Stallungen des Lehr- Forschungsgutes digitale Videoanlagen installiert. „Bei uns bekommt jedes Tier das beste Futter, wann immer es will. Es wird am Automaten gemolken, dort wird eine Milchprobe gezogen und analysiert. Gleichzeitig wird die Kuh gewogen und medizinisch untersucht – alle Daten werden abgespeichert“, erläutert Dr. Sürie. So könne man auf jede Abweichung von der Norm reagieren und in das Kuhmanagement eingreifen. „Nur dadurch können wir diese enormen Milchleistungen von über 12.000 kg pro Jahr und mehr erreichen“. In den 1950er Jahren lag der Durchschnitt bei 2.500 und 1970 bei 4.500 kg/Jahr, erinnert der Wissenschaftler. Wobei nicht beschönigt wurde, dass das mittlere Lebensalter dieser Turbokühe gegenüber dem von vor 30 Jahren erheblich abgesunken ist.
Legehennen kommen in Ruthe in der Regel als frischgeschlüpfte Küken an. Zuvor wurden sie von asiatischen Fachleuten „gesext“: Weibliche und männliche Küken wurden sortiert. Für die Männlichen besteht in der Regel kein Bedarf, da sie weder Eier legen noch ordentlich Fleisch ansetzen - sie werden getötet. Die überbleibenden Hennen können bis zu 300 Eier pro Jahr legen.
Zurzeit werden im LFG in einem Versuch auch sonst getötete männliche Küken eingestallt. Aber sie lassen sich kaum verkaufen, da der Erzeugerpreis im Verhältnis zu einem „konventionellen Broiler“ fast zehnmal höher ist. Um das Töten der Millionen von männlichen Küken auszusetzen, wird überlegt, neue Zuchtlinien einzusetzen, die sich als Zweinutzungshuhn (Mast und Eierproduktion) eignen. Auch hier laufen Versuchsphasen, in denen die Wissenschaftler prüfen, ob sich das sogenannte Zweinutzungshuhn als Alternative zu den konventionellen Linien eignet. Da das Zweinutzungshuhn langsamer wächst als Tiere konventioneller Mastlinien, wird die Mastdauer deutlich länger sein. Herkömmliche Mastlinien werden nach etwa 32 Tagen mit etwa 2,5 Kilogramm Gewicht geschlachtet. Auch hier wies Dr. Sürie auf weitere Probleme hin. So führt das schnelle Wachstum in konventionellen Mastlinien zu Herzkreislaufproblemen und zu krankhaften Veränderungen der Füße und Beine und es kommt zum Federpicken. Dazu kommt, dass die hier bei uns nicht verarbeiteten Teile der Schlachttiere (Schenkel, Flügel, Innereien) nach Afrika und Asien exportiert werden. Durch diese konkurrenzlosen Billigimporte sind in Afrika bereits einheimische Geflügelhalter in den Konkurs getrieben worden.
Begleitet werden die Untersuchungen an den Tieren von Studien zur Praktikabilität, Verbrauchereinstellung und -akzeptanz sowie zur Wirtschaftlichkeit. Da die Legehennen einer Zweinutzungsrasse pro Jahr etwa 50 Eier weniger legen - die auch noch kleiner sind - und die Masthähnchen ein geringeres Gewicht bei einer längeren Mastdauer haben, bedeutet das Konzept für die Landwirte auf den ersten Blick wirtschaftliche Einbußen. Hier sei der Verbraucher gefragt: Mehr Tierschutz kostet auch mehr Geld. Die Frage ist, ob die Konsumenten bereit sind, den Preis zu zahlen.
Wir bedanken uns bei Herrn Dr. Sürie für den informativen Nachmittag, der viele Anstöße zum Nachdenken und Nachfragen gab.
Jochem Sassenberg / Fotos: Wolf Heinrich Vollmer