Tief in die Stadtgeschichte: Grabungsbesuch im Nicolaiviertel
Am 01.11.2017 lud die Fachgruppe Archäologie zu einem Besuch auf der aktuellen Ausgrabung im Göttinger Nicolaiviertel ein. Dort werden baubegleitend zur Errichtung des neuen „Kunstquartiers“ auf dem Grundstück Düstere Straße 7 archäologische Untersuchungen durchgeführt. Schon auf dem Nachbargrundstück wurden 2014 im Zuge des Umbaus zum Günther-Grass-Archiv interessante archäologische Funde gemacht. Ebenso steht hier mit Baujahr um 1310 eines der ältesten Fachwerkhäuser Göttingens. Geführt wurde die Gruppe von Herrn Wedekind von der Grabungsfirma Streichardt & Wedekind, die schon mehrfach Gruppen des ASH auf ihren Ausgrabungen begrüßt hat.
Stadtkernarchäologie, wie sie sich hier präsentierte, gehört zu einer der anspruchsvollsten archäologischen Disziplinen. Anders als bei klassischen Grabungen „auf freiem Feld“ müssen hier die Spuren des Menschen nicht mühevoll gesucht werden, im Gegenteil: Der gesamte Erdboden ist bis in 2-3 Meter Tiefe komplett von menschlichen Aktivitäten geprägt. Diese müssen dann Schicht für Schicht freigelegt, dokumentiert und wieder abgetragen werden, um ein kohärentes Bild der Bau- und Besiedlungsgeschichte dieser Parzelle rekonstruieren zu können. Dabei fasst man meist auch nur einen willkürlichen Abschnitt der mittelalterlichen Stadt, in der die Parzellen und Straßenführungen keineswegs identisch mit den modernen sein müssen. Abfallgruben, Kloaken, Fundamentreste, Feuerstellen, Planierschichten, Keller, Fußböden aus Lehm, Parzellenbegrenzungen und mehr liegen dicht übereinander, immer durchkreuzt von modernen Abwasserleitungen oder Betonpfeilern. Dazwischen findet man überall den Müll vergangener Epochen – der freilich im richtigen Kontext viel über die Zeitstellung, den Lebensstandard und die Wirtschaft der jeweiligen Zeit verraten kann. Seit September 2017 sind die Archäologen von Streichardt und Wedekind nun dabei, dieses große Puzzle zu enträtseln.
Ein Problem sind moderne Fundamentreste. So finden sich auf beiden Seiten der Grabungsfläche mächtige Betonpfeiler, die die dortigen archäologischen Schichten komplett zerstört haben. Bis kurz vor unserem Besuch teilten zudem Betonfundamentmauern aus den 1950er Jahren die Südwestecke in viele kleine Kästen. Zwischen diesen hatten sich die Kulturschichten allerdings gut erhalten. So konnte der Bereich dennoch untersucht werden – dann mussten die Fundamente mit schwerem Gerät abgebrochen werden. Darunter wurde vor unseren neugierigen Augen gerade ein Laufhorizont für die wissenschaftliche Dokumentation vorbereitet. Auch der Ansatz einer Kellertreppe war bereits freigelegt. Keller, sonst typische Befunde in der Stadtkernarchäologie, sind hier im Nicolaiviertel aber selten. Dies hinge mit dem hohen Grundwasserspiegel zusammen, so Wedekind. Aus historischen Quellen ist bekannt, dass das Nicolaiviertel bei seiner Gründung im 12. Jahrhundert eher zu den siedlungsungünstigen Bereichen der frisch gegründeten Stadt gehörte, es lag so tief, dass es regelmäßig vom Leinekanal überflutet werden konnte. Daher erhöhten die Gründer zunächst das Bodenniveau, indem sie eine ca. 30 cm starke Aufschüttung aufbrachten – diese lässt sich auch in der jetzigen Ausgrabung fassen. Auf dieser Aufschüttung finden sich dann mit Feuerstellen und Fußbodenresten Spuren der Bebauung des 12.-13. Jahrhunderts. Anfang des 16. Jahrhunderts wurde dann erneut eine Erhöhung des Geländes vorgenommen, hierfür wurden bei einigen Häusern sogar künstlich die Fundamente erhöht, um auf Straßenniveau zu bleiben. Sprechen die Funde bis in diese Zeit dafür, dass hier eher einfache Leute und kleinere Handwerker lebten – die Schustergilde etwa ist belegt –, so werden im 16. Jahrhundert stattliche Fachwerkhäuser errichtet. Eine große Feuerstelle aus Ziegelsteinen und Kalksteinplatten mit einem Durchmesser von über 2 Metern, die bei der Ausgrabung entdeckt wurde, lag sehr wahrscheinlich in der Durchfahrt eines gotischen Hallenhauses, das sich zu dem Zeitpunkt auf dem Grundstück befand. Feuerstellen dieser Größe wurden etwa zur Erhitzung der städtischen Braupfanne verwendet, die sich die einhundert reichsten, steuerzahlenden (!) Bürger zum Bierbrauen ausleihen konnten. Für die Stadtgeschichte bedeutet das, dass spätestens jetzt das Nicolaiviertel nicht mehr als Arme-Leute-Viertel gelten kann, sondern auch wohlhabende Patrizier hier ihre Wohnhäuser errichteten.
Die Fundstücke, die es zu sehen gab, waren leider alle modern, aber dennoch nicht uninteressant: Eine Bierflasche der Göttinger Brauerei, komplett mit Stadtwappen aus dem 19. Jahrhundert, entstammte einer kleinen Kloake, die schon in einer frühen Bodenschicht erkannt worden war. Hieraus stammte auch eine kleine Hasenfigur mit abnehmbarem Kopf – wohl ein Kinderspielzeug. Ein Keramikkrug, ebenfalls aus den oberen Schichten, trug sogar die exakte Jahreszahl seiner Herstellung: 1790.
Spannend wird es nun in den folgenden Wochen, wenn die mittelalterlichen Schichten vollständig erreicht werden. Einige von ihnen liegen so günstig, dass hier, durch das Grundwasser konserviert, die Erhaltung organischer Gegenstände aus Holz und Leder wahrscheinlich ist. Eine bei Probebohrungen gestreifte Mistgrube in der Tiefe von über 2 Metern verströmte sogar noch den typischen Geruch! Es ist also zu erwarten, dass die Grabung noch mehr Geheimnisse aus den Tiefen der Göttinger Stadtgeschichte preisgeben wird.
Hat dieser Bericht Ihr Interesse geweckt? Die Fachgruppe Archäologie plant auch im neuen Jahr Exkursionen zu aktuellen archäologischen Grabungen und Ausstellungen in der Region. Termine sind hier auf der Homepage zu finden oder können beim Fachgruppensprecher erfragt werden.
Tobias Uhlig